In diesem Beitrag geht es nicht darum, ob die Kieferorthopädie (KO) therapeutisch sinnvoll ist oder nicht. Ich bin kein Kierferorthopäde, habe aber schon tolle und nicht so gute Ergebnisse der Eingriffe gesehen. Die KO ist lediglich ein augenfälliges Beispiel für die größere Fragestellung, wie Krankenkassen wohl entscheiden, welche Leistung erstattet wird und welche nicht. Wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Therapie, scheinen auf keinen Fall die wichtigste Entscheidungsgrundlage zu sein, denn:
„Berlin, 15. Januar 2019 (IGES Institut) – „Auch, wenn wir keine Belege für einen Nutzen der Kieferorthopädie bei Zahnfehlstellungen gefunden haben, mag es ihn doch geben. Das Erfahrungswissen der Kieferorthopäden aus jahrelangen Anwendungen steht in auffallendem Gegensatz zu einem Mangel an Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Um klarer zu sehen, brauchen wir daher dringend weitere, zielführend angelegte Studien. Diese sind jedoch methodisch herausfordernd“, erläutert der Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES und Studienautor, Dr. Holger Gothe.“
So lautet das Fazit einer sehr groß angelegten Studie seitens der Regierung zur Wirksamkeit der Kieferorthopädie. Ich behaupte nicht, das ganze Papier gelesen zu haben. Die Pressemitteilung oben, sowie die kurzen Ausschnitte aus der Schlussbetrachtung (siehe unten) lassen erahnen, wie es um die wissenschaftliche Beweislage der Kieferorthopädie (KO) bestellt ist.
18 aus 3600
Wenn von über 3600 Studien, die zu diesem Thema identifiziert wurden, lediglich 18 als auswertebar erachtet werden, spricht dies eine klare Sprache. Für eine extreme Geld- und Zeitverschwendung und gegen die Ernsthaftigkeit bei der gezielten Suche nach dem wirklichen Nutzen der KO.
Wie weiter unten zu lesen ist, geben die gesetzlichen Krankenkassen über €1.115.000.000 (1.115 Milliarden €) pro Jahr aus, um Zahnfehlstellungen durch die KO korrigieren zu lassen. Ohne jeden klaren Hinweis auf irgendeinen patientenrelevanten Nutzen. Nicht zu reden von der unkalkulierbaren Summe, auch hier fehlen die Daten schlichtweg, die über Jahre der Behandlung privat von den Eltern für Zusatzleistungen aufgewendet werden.
1% für die Forschung
Natürlich werden die aktuellen Ergebnisse und die Interpretationen dieser Untersuchungen des Bundesgesundheitsministeriums von den Verbänden der KO heftig angefochten. Die Anmerkung der Verbände, dass gerade die KO sich nicht dazu eigne, mit den herkömmlichen und anerkannten wissenschaftlichen Evidenz Methoden untersucht zu werden, ist eine reine Schutzbehauptung.
Wäre es da nicht sinnvoll, 1%, sprich knapp 10 Millionen Euro dieses Budgets pro Jahr in die Hand zu nehmen, um einheitliche, qualitativ hochwertige und langfristige Studien über den Nutzen der KO Maßnahmen in Absprache mit dem Bundesgesundheitsministerium (BGM) durchzuführen?
Keine Evidenz? Macht nichts…
So wie es derzeit aussieht, reicht es den gesetzlichen und privaten Kassen als Erstattungsgrundlage von Milliarden €, dass die Menschen mit den kurz- oder langfristig (wir haben lediglich Anekdotenwissen und Expertenmeinungen, ob das Ergebnis anhält, da es keine Studien gibt…) gerade gerichteten Zähnen sich ein bisschen besser fühlen, als die ohne KO.
Wieso interessiere ich mich für die Kieferorthopädie?
Es geht mir nie darum, jemanden schlecht zu machen oder bloßzustellen. Ich zweifle auch in keinem Fall an, dass jede/r einzelne KO seine/ihre Patientinnen mit den größten Sorgfalt untersucht, berät und behandelt. Und natürlich ist fehlende Evidenz nicht der Beleg, dass hier kein Nutzen vorliegt.
Ich finde diese Vorgehensweise der GKV zusammen mit den Verbänden der KO lediglich erstaunlich und sehr unausgewogen.
Tausche Kieferorthopädie und Chiropractic
Besonders natürlich im Hinblick auf den Umgang mit anderen Teilen des Gesundheitswesens, wie zum Beispiel der Chiropractic.
Die Ablehnung der Kostenerstattung für die Chiropractic und andere Maßnahmen wird immer mit der fehlenden wissenschaftlichen Evidenz der Wirkung und den Belegen der möglichen Nebenwirkungen begründet. Somit muss laut dem Gesetzgeber zum Schutze der Allgemeinheit darauf verzichtet werden, solche unbewiesenen Maßnahmen auf Kosten der Gesellschaft zu unterstützen.
Tauschen wir doch einfach mal die Begriffe im Eingangstext aus:
Berlin, 15. Januar 2019 (IGES Institut) – „Auch, wenn wir keine Belege für einen Nutzen der Chiropractic bei Wirbelfehlstellungen gefunden haben, mag es ihn doch geben. Das Erfahrungswissen der Chiropractoren aus jahrelangen Anwendungen steht in auffallendem Gegensatz zu einem Mangel an Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Um klarer zu sehen, brauchen wir daher dringend weitere, zielführend angelegte Studien. Diese sind jedoch methodisch herausfordernd“, erläutert der Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES und Studienautor, Dr. Holger Gothe.
Wenn dem Beruf des Chiropractors die gleiche neutrale Haltung seitens des Gesetz- und in diesem Falls auch Geldgebers entgegengebracht würde, könnten wir als Berufsstand wesentlich konstruktiver mit anderen Professionen aus dem Gesundheitswesen zusammenarbeiten. Die zahlreichen Menschen, die sich mit Rücken- und Gelenkschmerzen plagen, wären sehr dankbar, wenn ihnen alle Optionen zur sinnvollen Behandlung in einem kooperativen System zur Verfügung stehen würden.
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Einige Zitate aus den Veröffentlichungen zum Thema ‚Wirksamkeit der Kieferorthopädie‘
„Das ideale Gebiss gibt es nicht!“
Zu den Skeptikern gehört auch Jens Christoph Türp vom Fachbereich Zahnmedizin im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. „Kaum ein Mensch hat von Natur aus das in der Kieferorthopädie angestrebte ideale Gebiss, selbst die behandelnden Kieferorthopäden nicht. Insofern dürfte ein solches Ideal auch nicht als Grundlage für eine Therapieentscheidung gelten“, meint Türp, der auch als wissenschaftlicher Berater für diese WissenWasWirkt-Serie fungiert. „Selbstredend gibt es Fehlstellungen, die einer orthodontischen Behandlung bedürfen, etwa wenn Kauen oder Sprechen beeinträchtigt sind. Oder wenn Patienten, schon für Laien sichtbar, starke ästhetische Einbußen aufweisen. Dann ist man für das Wissen und die in weit mehr als einem Jahrhundert gesammelte klinische Erfahrung der Kieferorthopädie mehr als dankbar. Aber dies sind Einzelfälle. Die entscheidende Frage – und dies gilt für alle Fachdisziplinen der Medizin und Zahnmedizin – lautet nicht nur, welche Therapie wirkt, sondern, ob die Therapie indiziert ist.“
Kosten
„Auf Basis der verfügbaren Daten ist jedoch kein Rückschluss auf die genauen durchschnittlichen Kosten pro Fall und somit auch keine Beurteilung möglich, ob die derzeitige kieferorthopädische Versorgung den gesetzlichen Ansprüchen an eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung gerecht wird.“
Seite 108
„Zu beachten ist dabei, dass sich der diagnostische Nutzen in der Regel erst dadurch manifestiert, dass die infolge der Diagnosestellung eingeleiteten therapeutischen Interventionen ihre Wirkung mit erheblicher Latenz entfalten.“
Seite 113
„Auffällig ist, dass langfristige patientenrelevante Endpunkte wie Zahnausfall, Parodontitis und andere Folgeerkrankungen in keiner Studie erhoben wurden.“
„Insgesamt lassen die identifizierten Studien in Bezug auf die diagnostischen und therapeutischen kieferorthopädischen Maßnahmen keinen Rückschluss auf einen patientenrelevanten Nutzen zu.“
Seite 114
„Die Ausgaben steigen seit 2005 kontinuierlich an und beliefen sich in 2017 auf 1.115 Mio. €. Ergänzt werden diese durch Ausgaben für Zusatzleistungen, die den Versicherten außerhalb des Erstattungsrahmens für GKV-Leistungen durch die Kieferorthopädinnen und Kieferorthopäden angeboten werden. Befragungen durch Krankenkassen haben gezeigt, dass für 75 bis 80 % der Versicherten angegeben wurde, mindestens eine solche Leistung in Anspruch genommen zu haben. Derzeit nicht wissenschaftlich untersucht ist die Notwendigkeit und Art dieser Zusatzleistungen sowie, in welchem Umfang diese erbracht werden.“
Seite 114/115
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- „Kariesfreie Studienteilnehmende hatten seltener einen kieferorthopädischen Versorgungsbedarf als Kinder mit Karieserfahrung (37,1 Prozent vs. 44,7 Prozent).
- Bei einem kieferorthopädischen Versorgungsbedarf besteht häufig* auch eine Einschränkung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität mit Schwierigkeiten beim Kauen von Nahrung. Gleichzeitig waren Studienteilnehmende ohne kieferorthopädischen Versorgungsbedarf häufiger kariesfrei. Diese Assoziationen geben Hinweise auf den medizinisch-prophylaktischen Charakter einer kieferorthopädischen Behandlung.“**
Pressemitteilung
*wie häufig?
**Wenn Kinder ohne oder mit wenig Karies kaum KO Behandlungsbedarf haben, wie schützt dann die KO vor Karies? Wurden diese Kinder schon versorgt und hatten dann weniger Karies?!?
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„Es sollen nur Untersuchungs- oder Heilmethoden angewandt werden, deren diagnostischer oder therapeutischer Wert ausreichend gesichert ist. Die Erprobung solcher Methoden auf Kosten der Versicherungsträger ist unzulässig.“
G-BA Zahnmedizin, Seite 2
https://www.g-ba.de/downloads/62-492-8/RL-Kieferorthopaedie.pdf
„Dauer und Erfolg einer kieferorthopädischen Behandlung sind wesentlich von der verständnisvollen Mitarbeit des Patienten und der Erziehungsberechtigten abhängig. Diese sind vor und während der Behandlung entsprechend aufzuklären und zu motivieren. Mangelnde Mundhygiene gefährdet die Durchführung der kieferorthopädischen Behandlung. Bei Patienten, die während der kieferorthopädischen Behandlung trotz Motivation und Instruktion keine ausreichende Mitarbeit zeigen oder unzureichende Mundhygiene betreiben, muss das kieferorthopädische Behandlungsziel neu bestimmt werden. Ggf. muss die Behandlung beendet werden.“
G-BA Zahnmedizin, Seite 5