Alles was keine Evidenz hat ist Hexenkunst und Quacksalberei
Dieser Standpunkt soll eine besondere Sorgfalt und akademische Disziplin kundtun. Es soll zeigen wie objektiv, interessiert und belesen der Vertreter dieser Ansicht ist. Und es ist durchaus wichtig, solche extremen Positionen einzunehmen. Denn dies kann zum Nachdenken und zu fruchtbaren Diskussionen führen.
Leider wird aber so eine Ansicht oft vertreten, um eben diese Diskussionen zu ersticken. Der große Hammer der Evidenz wird geschwungen um alle anderen Argumente platt zu machen. Denn Wissenschaft ist Wahrheit und Evidenz ist eindeutig. Wahrheit oder Lüge. Schwarz oder weiß. Gut oder schlecht. Das Imperium oder die Rebellen.
Wenn das mal alles so einfach wär‘…
Dass dies besonders im klinischen Alltag so nicht durchzuhalten ist, dürfte jeder klar sein, die schon mal versucht eine Patientin zu behandeln. Besonders deutlich wird die Ambivalenz der Evidenz, wenn das gewählte Protokoll nicht direkt zum von der Evidenz vorgezeichneten Ergebnis führt. Was dann? Oder wenn der Patient nicht genau dem Profil jener Menschen entspricht die die Aufnahmekriterien in das Studienprotokoll rechtfertigen? Die Patientin nach Hause schicken? Ihr mitteilen, dass nun die Evidenz-basierte Medizin hier nichts mehr zu bieten hast? Oder vielleicht doch lieber ein paar unkonventionelle, manchmal Off-Label genannte, Methoden und Medikamenten Kombinationen ausprobieren?
Denn wenn die Heilkunde nur aus der sturen Anwendung von wissenschaftlich etablierten Erkenntnissen besteht, dann brauchen wir keine Ärzte oder Heilpraktiker oder Chiropractoren. Dann gibt es eine Flowchart und der wird gefolgt. Fertig! Problem gelöst. Der Nächste, bitte. Problem nicht gelöst? Einige Jahre auf neue Evidenz warten…
Genau so würden lernende Algorithmen mit der Heilkunde umgehen. Somit führt uns eine rein auf die vorhandene und allgemein anerkannte Evidenz beruhende Medizin in eine Zukunft, in der menschliche und zwischenmenschliche Einflüsse endlich eliminiert werden. Nur noch reine Wissenschaft. Vollkommene Sicherheit und vor allem Freiheit von Schuld wenn etwas schiefgeht. Der Traum der defensiven Medizin.
Evidenz ist eine von drei Säulen
Die anderen beiden Säulen, die das Dach der erfolgreichen Therapie stützen, sind Erfahrung des Anwenders und Präferenzen des Patienten. Wer nur eine dieser Säulen nutzen möchte um Entscheidungen zu treffen, liegt sicher oft daneben. Aber Sie kann sich darauf berufen, nach der Evidenz gehandelt zu haben. Aber wem nützt das?
Das Dach gerät auch in eine deutliche Schieflage wenn die Säulen nicht die gleiche Länge haben. Der erfahrene Heilkundler nimmt alle verfügbaren Informationen unter die Lupe und trifft eine Entscheidung, die möglichst viele Aspekte zum Wohle des Patienten berücksichtigt.