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Selbst-Zensur

Was ist anders?

Bis vor Kurzem war es in unserer Gesellschaft völlig in Ordnung, ja gewünscht, eine andere Meinung zu vertreten. Im Bereich meiner Expertise, der Gesundheit des Menschen, gab es von allen Seiten wie Politik, Patientenverbände, ja auch den Ärzten selbst, Kritik an der Qualität und der Schwerpunktsetzung der Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern.

Die Machenschaften pharmakologischer Firmen wurden in diversen investigativen Artikeln und ganzen Büchern aufgedeckt und angeprangert. Korruption, Sparzwang, kopflose Reformen, die Tatsache, dass der Patient und dessen Wohlergehen nicht im Fokus der Bemühungen steht, waren Themen die kontrovers diskutiert wurden.

Zu keinem Zeitpunkt war diese Kritik gegen die Menschen gerichtet, die im Gesundheitswesen alles geben, um den Patienten die sich ihnen anvertrauen, zu helfen. Aus meiner Sicht geht niemand mit dem Vorsatz in das Gesundheitswesen, anderen zu schaden. Ich bin immer wieder beeindruckt, dass sich Menschen den Bereich der Intensivmedizin oder auch Palliativmedizin als ihr favorisiertes Arbeitsumfeld aussuchen.

Und jetzt?

Aber all diese Diskussionen sind verstummt. Vergessen die Skandale der Pharmaindustrie, die Opioidkrise, die Bevorteilung der reichen Länder, die Weigerung die Daten komplett zu veröffentlichen, die zynischen Kalkulationen. Die Polarisierung der Gesellschaft, vorangetrieben durch die Kommentarspalten der sozialen Medien, hat alle und alles erfasst. Das erstickt den Diskurs. Der moderate Mittelweg ist abgeschafft. Die Gesellschaft hat sich von der konstanten Erregungsmaschine des Internets komplett spalten lassen.

Jeder ‚kritische‘ Kommentar zur aktuellen Lage der Pandemiebekämpfung wird mit einem Verweis auf hart arbeitende Pfleger, Schwestern und Ärzt*innen gekontert. Dabei haben diese beiden Themen nichts miteinander zu tun.

Ein kritischer Moment für die Kritik

Ich kann die Fortschritte, die harte Arbeit und die technischen Fähigkeiten der Chirurgie würdigen und trotzdem Kritik an der praktischen Anwendung und Begründung vieler chirurgischer Maßnahmen äußern.

Ich kann die Geschwindigkeit und Komplexität wissenschaftlichen Errungenschaften und technischen Möglichkeiten der Pharmaforschung bewundern und gleichzeitig kann ich die dreiste politische Einflussnahme kritisieren. Ebenso möchte ich darauf verzichten dürfen, die Produkte dieser Industrie ohne weitere Überlegungen und eingehende Prüfungen, einzunehmen.
Wer konstruktiv kritisiert, egal ob ernst oder auch mal mit rhetorischer und satirischer Überspitzung und Überzeichnung, ist noch engagiert. Diese Menschen machen sich Gedanken, formulieren diese und stellen sie zur Diskussion. Gut gemachte Kritik ist nicht herabwürdigend oder menschenverachtend und macht sich nicht lächerlich über die einzelnen Personen die ihrem täglichen Tun mit Hingabe nachgehen. Wer etwas falsch verstehen möchte kann dies jederzeit tun.

Ich fühle mich für das verantwortlich, was ich gesagt habe.
Nicht für das, was Du verstehen möchtest.

Unbekannt

Der Wille jede kritische Aussage dem einen oder anderen Lager zuzuordnen und dann die totale Identifikation mit allen anderen Argumenten dieser Gruppierungen nahezulegen, ist schädlich und falsch.

Sobald ich ein Argument der ‚linken‘ nachvollziehen und unterstützen kann, gibt es den Verdacht des Extremismus. Dasselbe gilt für das andere Ende des Spektrums.

Entweder Du huldigst unkritisch allen heilsbringenden Neuerungen der Pharmariesen oder bist barfußlaufender, Mantra-singender Baum-kuschelnder Pharma ‚Gegner‘.

Du bist Radfahrer oder Autofahrer.

Du glaubst an die absolute Überlegenheit akademischer Wissenschaft oder Du bist ein leichtgläubiger und durchgedrehter Verschwörungstheoretiker.

Die Kritik selbst ist wichtig und sollte als Basis für den Austausch von Argumenten genutzt werden. Wenn Kritik unüberlegt und absurd ist, kann sie leicht bloßgestellt und schnell entkräftet werden. Dies sollte auch bei jeder Gelegenheit von seriösen Medien ohne Angst vor einem Shit-Stürmchen im Wasserglas der Kommentarspalten getan werden.

Gut gemachte und wohl durchdachte Kritik erweitert die Erkenntnisse und Einsichten aller an der Diskussion Beteiligten.

Offener und unaufgeregter Diskurs oder Totalitarismus im Kleinen und im Großen

In den USA wird Ihnen nicht zuletzt wegen Ihrer Irak-Position Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Lieben Sie Amerika?

Noam Chomsky: Was für eine Frage? Das liegt doch auf der Hand. Aber was ist Amerika? Wenn Sie mit Amerika die Staatsgewalt meinen, dann sage ich: Nein. Ich mag Staatsgewalt auch nirgendwo sonst. Im Grunde handelt es sich bei dieser Unterscheidung in pro- und anti-amerikanisch um ein Konzept aus dem Fundus totalitärer Herrschaftstechniken. Auch Dissidenten in der alten Sowjetunion wurden gern als „anti-sowjetisch“ verdammt. Stellen Sie sich vor, jemand in Italien kritisiert Berlusconi, käme dann jemand auf die Idee, ihn als „anti-italienisch“ zu bezeichnen?

Noch nicht.

Noam Chomsky: Ja, noch nicht. Der Vorwurf des Anti-Amerikanismus verrät ein lächerliches Gebaren. Deshalb muss die Antwort auf die Frage: „Pro- oder anti-amerikanisch?“ die Dekonstruktion der Frage selbst sein.

Noam Chomsky
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/totalitare-techniken

Denkanstöße, Tipps und Übungen für den Alltag?